Die App auf Rezept steht dank dem Digitale Versorgung Gesetz (DVG) kurz vor der Tür. Wie wird mit dem Einzug der digitalen Helfer das Verhältnis von Arzt und Patient in Zukunft aussehen? Und welche Folgen hat das für unser Gesundheitssystem? Ein Gespräch mit Dr. Regina Vetters, Leiterin digitale Produktentwicklung (Barmer.i) bei der Barmer.
Frau Vetters, Sie haben ein Pilotprojekt ins Leben gerufen, in dem Hausärzte in der Region Cottbus Gesundheits-Apps empfehlen.
Genau, und die Idee kommt gut an. Mittlerweile nehmen bereits gut 200
Hausärzte teil. Das Projekt wurde inzwischen um die Bundesländer Berlin,
Brandenburg, Thüringen und die Region rund um Darmstadt erweitert.
Zwölf Apps wurden in das Programm aufgenommen, mit dem
Behandlungsspektrum Rückenschmerzen, chronische und allgemeine
Schmerzen, Stress, Diabetes, Ernährung, Schwindel, Reiseschutz und
Hausmittel. Nach welchen Kriterien haben Sie eine Entscheidung
getroffen?
Das sind alles Themenfelder, die sich die Ärzte selbst ausgesucht haben.
Wir haben zuvor mit vielen Ärzten Gespräche geführt, um herauszufinden,
was sie wirklich brauchen. Daraus konnten wir die Themenfelder
ermitteln, die die Ärzte in der Praxis am meisten unterstützen. Es gab
noch weitere Vorschläge, von denen wir uns vorstellen können, unser
Programm entsprechend zu erweitern. Denkbar wären zum Beispiel Apps für
das Nichtraucher-Training oder Apps für junge Eltern. Aber das ist jetzt
erst einmal unser Startportfolio für das Hausärzteprojekt.
Was ist das genaue Ziel des Projekts?
Wir wollen eine Brücke schlagen, denn es gibt nach wie vor zwei Welten,
die nicht immer richtig zusammenpassen. Ich meine die traditionelle
Versorgung auf der einen und das digitale Angebot auf der anderen. Zu
uns kommen Start-ups mit tollen digitalen Produkten. Doch das reicht
nicht. Es müssen entscheidende Fragen geklärt werden. Habt ihr schon
einmal mit einem Arzt über euer Produkt gesprochen? Passt das eigentlich
in einen Behandlungspfad? Zu uns kommen auch Vertreter von
Krankenhäusern und andere Leistungserbringer mit selbst entwickelten
Apps. Doch hier stellen sich die Fragen der Bedienbarkeit. Will der
Patient das wirklich nutzen? Nach meiner Erfahrung zeigt sich häufig,
dass jeder nur sein Feld im Blick hat. Als Barmer können wir da viel
Know-how einbringen und diese Welten zusammenführen. Lassen Sie mich
kurz erklären, warum uns das so wichtig ist. Wir haben festgestellt,
dass Patienten mit chronischen Erkrankungen Gesundheits-Apps viel
adhärenter nutzen, wenn der Gebrauch durch den Hausarzt unterstützt
wird. Das ist die erste vorsichtige Evidenz bei der Nutzung von
Digitalprodukten.
Aufgrund dieser Erfahrung ist es wichtig, die Ärzteseite noch mehr einzubeziehen. Bei den meisten Ärzten schlägt das Thema ohnehin auf. Die Patienten bringen Fragen zu bestimmten Gesundheits-Apps mit in die Praxis, aber die Ärzte fühlen sich häufig unsicher. Welche Apps soll ich denn empfehlen? Ich weiß gar nicht, was gut und was schlecht ist, dabei würde ich mich gerne mit meinen Patienten darüber unterhalten können! Die Ärzte wünschen sich also mehr Informationen. Weil wir in den letzten Jahren mit gut 500 Start-ups gesprochen und gelernt haben, die Spreu vom Weizen zu trennen, können wir helfen und diese Brücke schlagen.
Allzu viele Widerstände hatten Sie also nicht zu überwinden …
Unsere Anfangshypothese war, dass die Ärzte erstmal skeptisch sind.
Natürlich gibt es auch Ärzte, die sagen: Gesundheits-Apps sind nichts
für mich. Aber wir wurden positiv überrascht. Die meisten waren dem
Thema gegenüber sehr aufgeschlossen. Es gab eher eine Unsicherheit im
Umgang mit Gesundheits-Apps, die sie hat skeptisch werden lassen. Aber
das hat sich nach dem Ausprobieren gegeben, so dass die Rückmeldungen
später dann oft auch sehr positiv waren. Viele fanden die Apps einfach
und verständlich und fühlten sich dann auch sicher genug, sie Ihren
Patienten zu erklären.
Von wem geht die Initiative zur Nutzung von Gesundheits-Apps denn in Regel aus?
Wir haben als Barmer zwei Dutzend Versorgungs-Apps, die wir anbieten.
Diese werden sehr unterschiedlich genutzt. Manche im großen Stil, andere
eher zurückhaltend. Das hängt von der Zielgruppe ab, manchmal auch von
der Indikation. Aber Apps sind bei vielen Menschen schon eine
selbstverständliche Beschäftigung. Allerdings sind das in erster Linie
noch Fitness- oder Bewegungs-Tracker, indem sie zum Beispiel die täglich
zurückgelegten Schritte zählen oder den Herzrhythmus erfassen. Damit
kann der Arzt zunächst einmal nichts anfangen. Es braucht einen klaren
Fokus bei der Nutzung von Apps.
Der da wäre?
Unsere beliebtesten Apps im Projekt sind zwei Apps zum Training gegen
Rückenschmerzen. Wenn ein Patient mit Rückenproblemen Tipps vom Arzt
gegen seine Beschwerden haben möchte, muss dieser erstmal ein oder zwei
Übungen erklären. Das kann er aber in der Regel in den acht Minuten, die
er für ein Patientengespräch hat, nicht intensiv machen. Dank der
Rücken-Apps kann er jetzt sagen: Hier können Sie sich die Übungen
nochmal genauer ansehen. Früher gab es dafür einen Zettel. Die App kann
es jedoch viel intensiver zeigen und Informationen zu
Entspannungsübungen und zur häufig stressbedingten Entstehung von
Rückenschmerz liefern. Die App ist die verlängerte Erklärung des Arztes,
die man mit nach Hause nehmen kann. Es kommt ja immer wieder vor, dass
ein Arzt etwas erklärt, und wenn der Patient zu Hause angekommen ist,
weiß er nur noch eine der drei Übungen.
Die App erhält also durch die Einbettung in ein medizinisches Versorgungskonzept einen zusätzlichen Mehrwert …
So ist es, und das führt auch dazu, dass die Patienten die Apps länger
benutzen. Es gibt natürlich Menschen, die das auch ohne ärztliche
Betreuung machen. Die Apps kann sich ja jeder einfach runterladen. Aber
wir sehen in diesen Fällen häufig, dass deren Nutzung nach sechs Wochen
wieder weniger wird. Das ist vergleichbar mit dem Phänomen, dass viele
zum Jahreswechsel ins Fitnessstudio gehen, fest entschlossen, regelmäßig
zu trainieren, aber die Motivation spätestens im März wieder nachlässt.
Dann ist das Fitnessstudio wieder deutlich leerer. Das gibt es bei
Gesundheits-Apps natürlich auch. Doch ein Arzt ist hier eine wichtige
Kontrollinstanz. Beim nächsten Besuch fragt er konkret nach den bereits
erzielten Erfolgen. Die Kombination aus normaler Therapie und digitaler
Unterstützung ist häufig sehr viel stärker als das reine Produkt.
Sehen Sie Fitness-Apps und -Tracker als Einstieg in die Welt der Gesundheits-Apps?
Fitness-Tracker an sich sind keine medizinischen Produkte, sondern nur
eine Art, sich überhaupt mit dem Thema Gesundheit zu beschäftigen. Bei
den Trackern geht es in erster Linie um das Festlegen der Anzahl der
Schritte, die man pro Tag zurücklegen möchte. Das ist aber nicht die Art
von Produkt, die wir vergüten und die wir in unserem Portfolio haben.
Hinter der Rückschmerz-App KAIA stehen zum Beispiel richtige Mediziner.
Es handelt sich dabei um eine Übertragung eines auch in der analogen
Welt existierenden Konzepts zur Bekämpfung von Rückenschmerzen. Zentral
war die Frage: „Was will der Hausarzt?“ Schwindel und Hausmittel sind in
den Praxen zum Beispiel häufig Thema, da haben die Hausärzte explizit
nach Unterstützung gefragt.
Vielen Herstellern von Gesundheits-Apps wird ein unseriöser
Umgang mit den sehr sensiblen Gesundheitsdaten vorgeworfen. Wie stehen
Sie dazu?
Datenschutz und Datensicherheit sind immer ein ganz zentrales Thema.
Unsere Anforderungen daran sind sehr hoch. Erst wenn alle Fragen dazu
mit den Herstellern entsprechend geklärt sind, können wir die Apps
vergüten. Dazu gehören Fragen wie: Gibt es ein Datenschutzsiegel? War
der Datenschutzbeauftragte eingebunden? Wo werden die Daten gespeichert?
Sind Sie mit den aktuellen Formulierungen im Digitale Versorgung Gesetz
im Großen und Ganzen glücklich? Bei Preisfindung und Evidenzkriterien
wurden die Zügel für die Hersteller ja gelockert, um Innovation zu
befördern …
Generell begrüßen wir das Digitale Versorgung Gesetz (DVG), weil der
Gesetzgeber hier einen Weg für Innovationen schafft, den es bislang so
nicht gibt. Die bisherigen Wege in die Regelversorgung werden den
digitalen Produkten so nicht gerecht. Unsere eigenen
Vergütungsmöglichkeiten sind sehr begrenzt, und nach SGB V lässt sich
meist schlecht argumentieren, um eine Gesundheits-App zu bezahlen. Das
DVG öffnet ein Fenster für Innovation und gibt digitalen Produkten eine
breitere Bühne. Das ist aber noch nicht der Stein der Weisen. Wir werden
das in den nächsten Jahren eng begleiten. Idealerweise werden die
Evidenzanforderungen nachträglich wieder hochgezogen. Wenn die Apps
erprobt wurden, gibt es eigentlich keinen Grund, längerfristig
niedrigere Evidenzkriterien als für pharmazeutische oder medizinische
Produkte anzulegen. Nur kommen die Apps eben aus kleinen Unternehmen,
die nicht durch drei verschiedene Phasen klinischer Studien gehen
können. Die Produkte haben viel kürzere Lebens- und Entwicklungszyklen.
Man wird sich dann auch überlegen müssen, wie man mit Nachahmerprodukten
umgeht.
Ist die digitale Erwartungshaltung an Gesundheit eine Betreuung rund um die Uhr?
Schon heute gibt es Formen des Telemonitorings, beispielsweise, um
kritische Gesundheitszustände in der Entstehung zu erkennen und zu
vermeiden. Wir haben eine zehnjährige Studie mit der Charité zu
Herzpatienten gemacht und festgestellt, dass eine digitale
Rund-um-die-Uhr-Betreuung medizinisch sinnvoll ist, wenn die Patienten
stark eingeschränkt sind. Hier ist es gut, ihren Gesundheitszustand
mittels Telemonitoring dauerhaft zu kontrollieren und im Bedarfsfall
umgehend reagieren zu können.
Bedarf es ein zusätzliches Maß an Aufklärung über digitale Medizinprodukte?
Die Digitalkompetenz muss natürlich auch im medizinischen Bereich
zunehmen, und zwar an verschiedenen Stellen. Zunächst einmal gilt es,
die Anwender digitaler Medizinprodukte zu informieren. Das sind in
erster Linie nicht die technikaffinen Millennials, sondern eher ältere
Menschen. Bei diesen besteht natürlich eine Unsicherheit. An dieser
Stelle besitzt das DVG auch eine Stärke, weil es besagt, dass die App
vom Arzt verschrieben werden und im Idealfall auch von ihm nochmal
erklärt werden muss. Dafür muss aber auch der Arzt aufgeklärt werden. Da
sind auch die Programmierer der Apps in der Verantwortung. Wenn zum
Beispiel ein Patient eine App zur Feststellung von
Medikamentenwechselwirkungen im Rahmen einer Therapie verwendet, sich
über die Arztanweisung hinwegsetzt und ein Medikament absetzt, könnte
das nachteilige Folgen haben. Ein entsprechender Hinweis, nochmal mit
dem Arzt zu sprechen, muss daher eingebaut sein, anstelle von
prozentualen Risikowahrscheinlichkeiten oder gar starren
Handlungsanweisungen. Andererseits ist es auch nicht zweckmäßig, wenn
die Menschen zu sensibel anspringen und bei jedem Hinweis der App sofort
zum Arzt rennen. Da muss die Balance noch austariert werden.
Apps für Diagnose und Therapie werden vom DVG weitestgehend nicht berücksichtigt. Halten Sie das für ein Problem?
Auch für den Gesetzgeber sind Apps für die Diagnose und Therapie ein
Stück weit Neuland. Deshalb entwickelt er Stück für Stück die
Rahmenbedingungen und spricht hier gerne von „agiler Gesetzgebung“. Es
ist natürlich einfacher, mit Apps erst einmal in den Bereichen
Erfahrungen zu sammeln, in denen das Risiko weniger groß ist. Danach
kann man die nächsten Schritte nachziehen. Am Anfang ist es sinnvoll,
die Schotten nicht ganz aufzumachen und alles reinzulassen. Umgekehrt
lässt sich der Filter später vergrößern für noch stärkere medizinische
Produkte, in der Digital-Health-Szene spricht man von sogenannter
„Serious Medicine“. Aber hier ist größere Vorsicht geboten. Denn wenn es
bei einem digitalen Medizinprodukt Probleme gibt, kann dies das
Vertrauen der Nutzer in die Digitalisierung schnell und nachhaltig
erschüttern. Daher bauen wir Apps für die Diagnose und Therapie doch
lieber langsam auf.
Frau Vetters, vielen Dank für das Gespräch.