Eine Karte für die Erforschung der Parkinson-Krankheit

Die Biomedizinerin Katharina Volz möchte die Parkinson-Krankheit digital neu vermessen. Wissenschaftler sollen ein mehrdimensionales KI-Modell dafür nutzen können, bessere wissenschaftliche Fragestellungen und Hypothesen zu entwickeln.

Vor den großen technologischen Revolutionen durch Computer, Internet und Raumfahrt waren sie oft das Ergebnis jahrelanger waghalsiger Bemühungen und kühner Abenteurer, ob über Land, zur See oder in der Luft. Und natürlich von penibler Kleinstarbeit: die Rede ist von Karten. Und nicht immer klappte das auf Anhieb. Christoph Kolumbus beispielsweise musste noch mit reichlich improvisiertem Material auskommen. Aber bekanntlich kam er an.

Doch auch heute noch ist diese durch und durch vermessen erscheinende Welt reich an „Terra incognita“, was sich nicht zuletzt an immer neuen Formen von Kartierungsversuchen äußert, die das Licht der Welt erblicken.

Es gibt inzwischen Karten von ganzen wissenschaftlichen Disziplinen, systematische Atlanten der Zellbiologie, und eine mit Echtzeit-Daten gespeiste Pandemie-Karte lässt uns tagtäglich zumindest in Ansätzen begreifen, was das Corona-Virus auf unserem Planeten anrichtet.

Katharina Volz vom Biotechnologie-Startup OccamzRazor würde dieser Sammlung gerne noch erweitern: um eine Karte der Parkinson-Krankheit. Denn Sie wünscht sich auch in der medizinischen Forschung mehr Orientierung: „Ein auf die Erforschung eines Teilgebiets der Parkinson-Krankheit spezialisierter Wissenschaftler hat heute nicht die Zeit und die Ressourcen, sich um das Wissen zu kümmern, das außerhalb seiner Teildisziplin liegt. Wissenschaftler verfügen nicht über die richtigen Tools, um mit der Komplexität der heutigen Biologie Schritt zu halten. Es fehlt die Vogelperspektive“, sagt Volz.

Und die Geschäftsführerin von OccamzRazor möchte keine Zeit mehr verlieren – was in ihrem Naturell zu liegen scheint. Ihren Doktortitel am Institute for Stem Cell Biology and Regenerative Medicine der Stanford University hat sie in der Rekordzeit von zweieinhalb Jahren absolviert. Und nach einem Schicksalsschlag im engen Freundeskreis hat sie ihre akademischen Pläne dort kurzerhand über den Haufen geworfen, um echte Hilfe zu leisten. Und zwar jetzt.

Fragmentiertes Wissen
Gut 330 verschiedene Journals, in der Hand von gut drei Dutzend medizinischen Fachverlagen gibt es, wissenschaftliche Meta-Suchmaschinen und -Datenbanken wie PubMed leisten Orientierungshilfe, aber oft beschränkt sich die Suche auf die Datenpools einzelner Institutionen.

Internationale offene Datenbanken der Molekularbiologie wie GenBank, HPP (Human Proteom Project) oder Reactome geben einen Blick frei auf die molekularbiologische Grundlagen und Reaktionsmuster innerhalb der menschlichen Zelle: Gene, Proteome oder intrazelluläre Signaltransduktionswege lassen sich hier recherchieren. Doch neben den großen Datenbanken gibt es unzählige weitere Projekte.

Und wie hängen alle diese Ergebnisse eigentlich genau zusammen? Die Lage bleibt unübersichtlich. Derweil dreht sich das Rad des Wissens schnell.

Mehr Übersicht dank KI?
Eine neue Art von Karte soll es richten, ein sog. „multidimensionaler Knowledge Graph“ wie ihn auch die großen Tech-Firmen wie Google oder Facebook nutzen, um durch die dynamische Neuverknüpfung von Informationen aus verschiedenen Quellen Usern passgenaue Inhalte zu komplexen Fragen anzeigen zu können.

Und komplexer als die Frage nach den Ursachen der Parkinson-Krankheit könnte eine Frage wohl kaum sein. So divers das Krankheitsbild, so unterschiedlich und so individuell sind die Faktoren, die sich darauf auswirken.

„Viele unheilbare Krankheiten lassen sich nicht auf ein einzelnes Gen oder einen einzelne genetischen Mechanismus zurückführen. Sie resultieren aus komplexen Interaktionen, die innerhalb von Zellen und zwischen den Zellen stattfinden. Diese Interaktionen sind so komplex, dass sie das menschliche Fassungsvermögen grundsätzlich überschreiten.“ (Katharina Volz beim SDG Moonshots Summit 2019, New York)

Die Rede ist vom sog. Interaktom, ein Begriff, der das Konzept eines hochkomplexen „Netzwerks“ molekularbiologischer Wechselwirkungen innerhalb einer Zelle beschreibt.

Die Erschließung des Interaktoms gilt als der nächste logische Schritt der Erforschung systematisch ablaufender intrazellulärer Prozesse.

Beim Menschen rechnet man momentan mit bis zu 1.000.0000 Millionen bioaktiver Proteinspezies (bei ca. 20.000 proteincodierenden Genen). Eine Studie aus dem Jahr 2008 kommt zu dem Ergebnis, dass das menschliche Interaktom ca. 650.000 Protein-Protein-Interaktionen umfasst, beeinflusst durch zahllose Enzyme und extrazelluläre Faktoren, z. B. im Rahmen einer Krankheit.

Durch das „Nachzeichnen“ von funktionellen Strukturen und Signalwegen will man in der Systembiologie neue Zusammenhänge erkennen. Sog. „Krankheitsmodule“ (disease modules) oder auch „Subgraphs“ heißen abgrenzbare Teil-Systeme des Interaktoms, die in ihrer Wirkung einem oder auch mehreren spezifischen (und sich ggf. überlappenden) Krankheitsbildern zugeordnet werden können. Auf der Interaktom-Karte werden dann z. B. bestimmte Protein-Protein-Interaktionen, der Einfluss von Regulatorproteinen im Rahmen der Proteinbiosynthese oder auch Umwege und Umbauten in Signalübertragungswegen (bei Krankheit) sichtbar.

Gute Trainingsdaten sind alles
Wenn es nach OccamzRazor geht, dann soll eine KI diese Zusammenhänge automatisch finden, durch das Zusammentragen von Daten aus so unterschiedlichen Wissensbeständen wie wissenschaftlichen Publikationen, Gen- und Proteom-Datenbanken, vorklinischen Studien, Patent-Datenbanken oder elektronischen Patientenakten.

Dazu muss sie jedoch trainiert werden, und das in der Regel noch „von Hand“. Deswegen haben Volz und ihr Team sich für das „Labeling“ eine Art Turbo-Prinzip ausgedacht.

Herausgekommen ist das Code-Framework BabbleLabble, das auf die Kennzeichnung von Inhalten mittels natürlicher Spracheingabe und ihre Überführung in mathematische Funktionen setzt.

So soll ein „digitaler Wissenschaftler“ (Volz) entstehen, der sich fortlaufend selbst aktualisiert.

Ein neues Modell für bessere Fragen
Forscher sollen dann z. B. wissenschaftliche Hypothesen über den multidimensionalen „Knowledge Graph“ austesten, in Frage kommende Wirkstoffkombinationen besser ermitteln oder auch Patientenkohorten mit besonderen Eigenschaften identifizieren können. Oder noch konkreter: die „Orte“ identifizieren können, wo die entscheidenden Veränderungen, die eine Krankheit begünstigen oder auslösen, wirklich passieren.

Dafür stellt das Tool einen völlig neuen „Kontext“ bereit.

Mutige Ankündigungen
OccamzRazor schreibt sich auf die Fahne, durch diese Karte des Wissens nicht nur die Parkinson-Krankheit „vollständig begreifen und heilen“ zu wollen, sondern auch andere Alterungsprozesse im Gehirn.

Erste vorklinische Experimente für eine KI-basierte Therapie sind laut Website in Vorbereitung.

Auf das Leitprinzip für die erste geplanten Erfolge lässt sich wohl schon aus dem Namen des Biotech-Startups schließen: „OccamzRazor“, Ockhams Rasiermesser, benannt nach dem mittelalterlichen Philosophen und Theologen Wilhelm von Ockham, ist eine wissenschaftstheoretische Idee aus der Zeit der mittelalterlichen Scholastik, nach der immer das einfachste Prinzip, das von den wenigsten unbewiesenen Annahmen ausgehe, zu bevorzugen sei.

Das klingt für eine solche Karte nach einer gewaltigen Herausforderung.

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