Die Entwicklerinnen der CRISPR/Cas-Technik Emmanuelle Charpentier und Jennifer Doudna sind mit dem Nobelpreis für Chemie ausgezeichnet worden. Das neue Tool erlaubt präzise Eingriffe in das Erbgut wie sie bisher nicht möglich waren. Das weckt neue Hoffnungen, auch in der Anwendung am Menschen. Wann ist es denn jetzt soweit?
Es ging ein stiller Aufschrei um die Welt. Als der chinesische Forscher He Jiankui im November 2018 bekannt gab, die Embryos von Zwillingsschwestern genetisch manipuliert zu haben, um sie von der HIV-Krankheit des Vaters zu heilen. Ein bewusster Eingriff in die menschliche Keimbahn, der willkürliche Akt eines einzeln Mannes. Die Handlung veranlasste die chinesische Regierung zur Verhängung einer dreijährigen Haftstrafe.
Die Bedenken für den Einsatz von Gentechnologie am Menschen sind weiterhin groß, die ethischen Diskussionen lang. So sprach sich eine Gruppe renommierter Molekularbiolog:innen und Bioethiker:innen um die Nobelpreisträgerin Emmanuelle Charpentier erst im März 2019 für ein weltweites Moratorium im Hinblick auf genetisch vererbbare Eingriffe in die menschliche Keimbahn aus, ebenso der Deutsche Ethikrat. Die sog. „Genchirurgie“ sollte damit aber keineswegs prinzipiell als unzulässig oder unethisch gebrandmarkt werden, wie auch Charpentier und ihre Kollegen in dem Meinungsbeitrag ausdrücklich betonen. So seien nicht vererbbare Eingriffe in das Erbgut zur Heilung spezifischer Krankheiten nach Zustimmung durch den Patienten weiterhin als absolut wünschenswert anzusehen, genauso wie z. B. Eingriffe in die menschliche Keimbahn, wenn diese ausschließlich im Labor und ausschließlich für Forschungszwecke vorgenommen würden. Auch nationale Alleingänge seien prinzipiell nicht verwerflich, wenn bestimmte Kriterien der Transparenz und einer breiten demokratischen Zustimmung gegeben seien.
Zunehmende Erfolgsmeldungen
Pressemeldungen vom Anfang dieses Jahres verkündeten die erfolgreiche „Behandlung“ der genetisch bedingten Bluterkrankungen Beta-Thalassämie und Sichelzellanämie, mit neuen Gentherapieansätzen, entwickelt von den Unternehmen Crispr Therapeutics und Vertex Pharmaceuticals. Ersteres wurde von der Nobelpreisträgerin Emmanuelle Charpentier selbst gegründet.
Beim ex-vivo-Verfahren „CTX001“ (ex vivo heißt, die dem menschlichen Körper entnommenen blutbildenden Zellen werden außerhalb des menschlichen Körpers genetisch angepasst) wird das fehlerhafte Gen nicht „repariert“, sondern die mangelhafte Bildung des roten Blutfarbstoffs Hämoglobin wird durch die Aktivierung eines anderen Genabschnitts, der für die Hämoglobin-Produktion während der Schwangerschaft verantwortlich ist, ausgeglichen.
Mit aussagekräftigen Studienergebnissen wird in gut zwei Jahren gerechnet (Quelle: vfa-Bericht „Medizinische Biotechnologie in Deutschland 2020“). Bereits jetzt soll die behandelte Patientin mit Beta-Thalassämie nicht mehr auf Bluttransfusionen angewiesen sein, auch der Zustand der Sichelzellanämie-Patientin soll sich stabilisiert haben. Das geht aus der offiziellen Pressemitteilung von Crispr Therapeutics hervor.
Für die Behandlung der seltenen Augenkrankheit Lebersche Kongenitale Amaurose wurde im März 2020 zudem das erste Mal eine Gentherapie direkt in vivo durch eine Injektion von Milliarden von Viren ins Auge verabreicht.
Gentherapien, die seit den 80er Jahren durchgeführt werden, brachten oft gemischte Ergebnisse. Trotzdem liegen große Hoffnungen z. B. auf der Behandlung von Krebs durch patientenindividuelle CAR-T-Zell-Infusionen wie mit der Therapie Kymriah von Novartis, die seit August 2018 in der EU zugelassen ist.
Trotz der jüngsten Erfolgsmeldungen mahnt z. B. Wissenschaftsjournalist Marcus Anhäuser aber vor vorschnellem Optimismus: „Dass solche Einzelfälle überhaupt berichtet werden, hat auch damit zu tun, dass diese Studien von Biotech-Firmen durchgeführt werden, die natürlich sehr an positiven Nachrichten interessiert sind, wie man am Aktienkurs der Firmen beobachten kann.“
USA und China preschen bei klinischen Studien voran, Deutschland will aufholen
In der Datenbank „Gene Therapy Clinical Trials Worldwide“ des „Journal of Gene Medicine“ sind derzeit 14 Studien mit dem Vektor Crispr-Cas9 gelistet (Stand: Dezember 2019). 12 davon laufen in China, lediglich zwei davon länderübergreifend in Europa. Bei alle Studien handelt es sich um Studien der Phasen 1 und 2. Die in Europa durchgeführten Studien sind zudem explizit als Sicherheits- und Wirksamkeitsstudien ausgezeichnet.
In Europa erhielten seit 2009 15 der sog. ATMP (Advanced Therapy Medical Products, Arzneimittel für neuartige Therapien) von der EMA (European Medicines Agency) eine Genehmigung für das Inverkehrbringen.
ATMPs werden in drei Kategorien eingeteilt: Somatische Zelltherapeutika (funktionell veränderte Zellen oder Gewebe), Gentherapeutika (, die über ein künstliches rekombinantes DNA-Molekül für die Editierung von Genen wirken) und Tissue-Engineering-Produkte (Zellen von Tieren oder Menschen (in Kombination mit weiteren Substanzen) für die Regenerierung von menschlichen Gewebe.
Für 10 Produkte (Holoclar, Imlygic, Strimvelis, Alofisel, Spherox, Kymriah, Yescarta, Luxturna, Zynteglo und Zolgensma) ist die Genehmigung weiterhin aktiv. Für 5 ATMP-Produkte wurde inzwischen die Berechtigung für die Genehmigung von den Rechteinhabern wieder zurückgezogen, oder die Genehmigung wurde nach Ablauf eines Zeitraums von im Regelfall 5 Jahren nicht verlängert (ChondroCelect, Provenge, Glybera, MACI und Zalmoxis). Weitere 6 ATMP-Arzneimittel (in der verlinkten Liste gekennzeichnet mit dem Kürzel „iv“) werden derzeit vom Ausschuss für Humanarzneimittel der EMA geprüft. Die beantragten Therapiekonzepte sollen vorwiegend antineoplastisch (das Wachstum von Tumoren eindämmend) und antihämorrhagisch (Blutungen stoppend) wirken, aber auch Prozesse des Nervensystems sollen beeinflusst werden.
ATMPs werden vorwiegend zur Behandlung von Seltenen Erkrankungen
oder als Alternativ-Therapie von Schwersterkrankungen, wenn klassische Therapiekonzepte nicht anschlagen, eingesetzt. Ca. 80 % der Seltenen Erkrankungen sind genetisch bedingt.
Derzeit finden über 1.000 ATMP-Studien weltweit statt. 2018 wurden aber lediglich 4,4 % der weltweiten Gentherapie-Studien mit Patienten in Deutschland durchgeführt (USA: 47,5 %, China: 39,2 %). Allerdings ist auch in Deutschland die Zahl der klinischen Studien für Gentherapeutika in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen: 2008 bis 2012 waren es durchschnittlich sechs Studienanträge pro Jahr, im Jahr 2018 gab es schon 36 Anträge. Vor allem die Phase-III-Studien verzeichneten Zuwachs (neun Anträge in 2017 und 2018, in der Regel jeweils nur ein Antrag von 2008 bis 2014). (Quelle: vfa-Report „Medizinische Biotechnologie in Deutschland 2020“)
CRISPR/Cas „nur“ ein Werkzeug
Die CRISPR/Cas-Methode ist das neueste Tool im Werkzeugkasten von Genetikern zur Behandlung von Krankheiten. Daneben gibt es weitere Genscheren wie Zinkfingernukleasen oder TALEN, die jedoch als wesentlich fehleranfälliger gelten. Neben der eigentlichen Genschere spielen aber z. B. auch die Genfähren (in der Regel Viren bzw. sog. virale Vektoren (als harmlose Variante) zum Einschleusen eines künstlichen Gens in eine Zelle eine Rolle. Als Viren kommen vor allem Adenoviren, Adeno-assoziierte Viren, Gammaretroviren und Lentiviren in Betracht. Gentherapien lassen sich also prinzipiell an vielen verschiedenen Punkten weiter optimieren. Und der Kampf um die „technischen Details“ verschiedener Therapiekonzepte ist längst im Gang.
Eine „saubere“ Lösung?
Die Idee, Krankheiten „an der Ursache“, hier ausgemacht als das (menschliche) Erbgut, „punktgenau“ zu bekämpfen – und nicht erst die durch eine Krankheit ausgelösten Symptome mithilfe von relativ unspezifisch wirkenden Medikamenten – klingt groß. Das gezielte Editieren, also Abschalten (Knockout), Hinzufügen oder Korrigieren von einzelnen Genen oder Genomabschnitten, erweckt den Anschein einer „sauberen“ Lösung. Leider gilt: so einfach ist es nicht.
Forscher suchen nach immer neuen molekularen Kniffen, eine Therapie noch effektiver und sicherer zu machen. Die CRISPR-Cas9-Methode ist dabei „nur“ die neueste Variante, gilt aber durch ihr einfaches aber effektives Prinzip, das zudem kostengünstig ist, als echter Durchbruch. Und dennoch: Auch die CRISPR-Cas9-Genschere kann ungenau schneiden, was letztlich zu ungewünschten Mutationen mit nicht absehbaren Folgen führen kann. Seit Jahren versucht man die Spezifität des Scheidevorgangs weiter zu verbessern, z. B. durch den Einsatz unterschiedlicher Cas-Varianten. Auch wird z. B. versucht durch Computersimulation sog. „off target“-Effekte vorauszuberechnen, also Wirkungen, die sich auf unerwünschte Bereiche im Genom (oder auf verwandte biochemische Vorgänge) erstrecken.
Junge Wissenschaft, neue Gefahren
Seit dem ersten Versuch eine gentherapeutischen Behandlung im September 1990 (bei einem Vierjährigen zur Behandlung eines schweren angeborenen Immundefekts) gab es zahlreiche Rückschläge. Mal war die Wirkungsdauer der gentherapeutischen Maßnahme nur kurz, es traten unerwartete (schwere) Nebenwirkungen wie eine Überreaktion des Immunsystems oder sogar schwere Folgeerkrankungen wie Multiorganversagen oder Krebs auf, die den Tod der Patienten zur Folge hatten.
Noch mangelt es an Langzeitstudien, mit denen sich die „absolute“ Sicherheit einer Therapie wissenschaftlich nachweisen ließe – wenn es die denn überhaupt gibt. Selbst mit einer Zulassung (nach dem deutschen Arzneimittelgesetz) steht die vollkommene Sicherheit von Arzneimitteln oder Therapien noch keineswegs fest. Das gilt erst recht für Gentherapien, ist aber ein recht „konventionelles“ Problem sehr vieler Arzneimittel: „Dies ergibt sich vor allem daraus, dass die klinische Erprobung eines Arzneimittels an einer begrenzten Anzahl von Patienten durchgeführt wird. Seltene oder sehr seltene unerwünschte Wirkungen, Wechselwirkungen oder andere Risiken im Zusammenhang mit der Arzneimittelanwendung können in klinischen Prüfungen dann oftmals noch nicht erkannt werden.“ (Quelle: BfArM)
Mit gut 30 Jahren auf dem Buckel ist die Gentherapie nach wie vor eine überaus junge Methode.
Zulassung, Logistik, Kosten
Das Zulassungsverfahren für Gentherapien in der EU ist in der Verordnung über Arzneimittel für neuartige Therapien (ATMP-Verordnung; VO (EG) Nr. 1394/2007) geregelt. Die durchschnittliche Zeit eines Genehmigungsverfahrens beträgt im Schnitt 13 Monate (Quelle: BPI), allerdings nimmt die Vorarbeit für die einzureichenden Unterlagen oft viele Jahre in Anspruch.
Unter bestimmten Umständen ist eine beschleunigte Zulassung in Deutschland durch das Paul Ehrlich Institut möglich, wenn ein ATMP „nicht routinemäßig“, sondern für einen medizinischen Einzelfall in einer „spezialisierten“ Einrichtung nach nationalen Qualitätsnormen hergestellt wird. Dabei handelt es sich um eine sog. „Krankenhausausnahme“ gemäß § 4b des Arzneimittelgesetzes. Im Rahmen einer solchen Ausnahme muss der Inhaber der Genehmigung regelmäßig an das Paul Ehrlich Institut Bericht erstatten. Die direkte Genehmigung erfolgt durch die zuständige Landesbehörde.
Die für das EU-Zulassungsverfahren zu erbringenden klinischen Studien müssen in Deutschland die GCP (Good Clinical Practice)-Kriterien erfüllen, d. h. Labore müssen entsprechend ausgestattet sein. Auch bei Herstellung und Logistik entstehen durch Gentherapien neue Herausforderungen, z. B. aufwendige Zellaufbereitungsverfahren, für die das Personal entsprechend geschult und neue Abläufe in Kliniken und Laboreinrichtungen etabliert werden müssen.
Weil Gentherapien oft nur für sehr geringe Anzahl von Patienten bestimmt sind, ist der Preis entsprechend gesalzen.Der Preis für eine Einmalbehandlung eines Leukämiepatienten mit der CAR-T-Zelltherapie Kymriah kostet z. B. ca. 320 000 Euro. Aber auch Kosten von 1 Millionen Euro und mehr sind keine Seltenheit.
Wer steckt Geld in Gentherapien?
Die Entwicklung neuer Gentherapien wird immer mehr von Biotechnologie-Startups vorangetrieben. Zu den finanziell am besten ausgestatteten Startups in den USA gehören z. B. Sana Biotechnology, Poseida Therapeutics oder auch bluebird bio, aber auch etablierte internationale Pharmakonzerne forcieren zunehmend Entwicklung und Investitionsaktivitäten, z. B Novartis, Sanofi oder Roche.
Die neuen Biotech-Firmen sammeln fleißig Kapital ein, obwohl Gentherapien bisher als nicht wirklich rentabel gelten. Zu hohe Forschungskosten, zu aufwendig die Herstellung und am Ende ein viel zu hoher Preis für eine geringe Anzahl von Patienten.
So entpuppte sich das erste zugelassene Gen-Therapeutikum überhaupt Glybera (Jahr der Zulassung: 2012) als Flop, sowohl in der Wirkung, aber vor allem auch finanziell. Der Hersteller uniQure verlängerte seine Genehmigung nach Ablauf der 5 Jahre nicht.
Doch die neuen Investoren scheint das nicht abzuschrecken. Denn die neuen Biotech-Startups versprechen mehr. Neben Verbesserungen im Detail bei den Verfahren, z. B. durch optimierte Genfähren für die Einschleusung von DNA (ohne Viren) oder die Möglichkeit einer mehrmaligen (patientenindividuellen) Therapieanwendung, winken die Hersteller z. B. mit sinkenden Herstellungskosten durch Automatisierung, z. B. bei Car-T-Zell-Therapien. Es entstehen also zunehmend Arzneimittel-„Plattformen“, die ihre Geschäftsfelder breiter ausdifferenzieren. So lässt sich das Crispr-Verfahren z. B. auch für die Medikamentenentwicklung einsetzen. Auch rücken zunehmend Krebserkrankungen in den Fokus von Gentherapien, bei denen ein therapeutischer Durchbruch sehr viel Geld verspräche. 66 % aller Gentherapie-Studien zielten bis 2019 insgesamt auf das Krankheitsbild Krebs. Das Krankheitsspektrum wird also insgesamt breiter und damit auch die Möglichkeit für rentabler Geschäftsfelder.
Siegfried Bialojan von der Beratungsgesellschaft Ey sieht in der technischen Weiterentwicklung und einem besseren Krankheitsverständnis gepaart mit einem neuen Selbstverständnis der Pharmahersteller die Chance für eine innovative Biotechnologie-Kultur in Deutschland:
„Pharmafirmen sind heute deutlich weiter in ihren Überlegungen zu zukünftigen Geschäftsmodellen, wo sie sich konkret mit der zunehmenden Personalisierung der Therapie hinbewegen wollen – und weil die Patienten und Kostenträger das fordern. Sie akzeptieren deshalb heute viel klarer, dass die Zeiten der reinen Therapeutikaentwickler abgelöst werden durch „Outcome“-Modelle, bei den der Patient im Mittelpunkt steht und umfassend zu „betreuen“ ist.“ Soll heißen: Für einen Erfolg der neuen Gentherapien braucht es auch neue Geschäftsmodelle, die das Kostenrisiko zwischen den Akteuren neu verteilen.