„Wir gestalten die Systeme so, dass sie dem Arzt nicht vorgeben, was er machen muss“

Der intelligente Operationssaal der Zukunft soll Ärzte dort unterstützten, wo sie am meisten von intelligenter Technologie profitieren. Ein Gespräch mit Prof. Dr. Thomas Neumuth vom Innovation Center Computer Assisted Surgery der Universität Leipzig über schlaue Geräte, die über Leben und Tod mitentscheiden.

Herr Neumuth, wie smart sollte es in einem OP-Saal zugehen?
Die Entwicklung wird momentan so vorangetrieben, dass die Technologie erkennt, was ein Arzt machen möchte, um ihn dabei optimal zu unterstützen. Wir reden nicht von Robotern, die selbstständige Entscheidungen treffen, wir reden über Szenarien, in denen der Arzt weiterhin die volle Kontrolle hat und selbst entscheidet, aber sich die Tools ändern. Der Arzt schneidet zum Beispiel nicht mehr mit einem Skalpell, sondern er benutzt einen Telemanipulator. Das sind keine Roboter, die selbstständige Programmabläufe durchführen wie in der Industrie. Landläufig werden sie aber halt doch Roboter genannt. Dabei steuert der Arzt mit einem Controller in der Hand aus der Ferne die einzelnen Arme des Telemanipulators. Das ist ein bisschen wie beim Spielen mit der Playstation.

Welche Vorteile hat das für Arzt und Patient?
Das Arbeiten wird viel präziser. Ein Arzt, der mit seinem Skalpell schneidet, kann dabei nur eine bestimmte räumliche Auflösung erreichen. Wenn Sie mal einen Stift zur Hand nehmen und damit einen geraden Strich ziehen, dann wird der Strich auf ein, zwei Millimeter vielleicht relativ gerade ausfallen, er hat aber auch eine gewisse Dicke. Mit einem Roboter können Sie das viel präziser einstellen und einen solchen Strich im Submillimeterbereich ziehen. Dabei können Sie auch die zu bearbeitende Struktur heranzoomen. Die Bewegungen des Chirurgen werden vom Roboter millimetergenau übersetzt. Auch das allgemeine Zittern in den Händen wird durch die Technik kompensiert. Das funktioniert so ähnlich wie bei einer kardanischen Aufhängung, einem Gimbal, zum Ausgleichen von Verwacklungen bei Bildaufnahmen mit dem Handy. Das System rechnet die unbeabsichtigten Bewegungen des Chirurgen einfach raus.

Und die Nachteile?
Ein Nachteil eines solchen Systems ist der große Platzbedarf. Es sind Motoren im Einsatz, das System muss stabil stehen und dazu brauchen sie zum Beispiel einen großen Standfuss. Die Systeme verfügen zudem über mindestens drei Arme. Zwei Arme halten die Instrumente, der dritte die Kamera. Bei einem Da-Vinci-Operationssystem kommen sogar vier Arme zum Einsatz. Die Arme müssen so koordiniert werden, dass sie mit ihrer Spitze im OP-Gebiet arbeiten können. Der Platzbedarf ist ein grundlegender Faktor für den Einsatz dieser Systeme.

Wo werden solche Systeme derzeit in erster Linie eingesetzt?
In der Urologie sind diese Systeme schon weit verbreitet. Da sind die Operationsergebnisse mindestens gleichwertig zu den Ergebnissen der Chirurgen, insbesondere was Präzision und Geschwindigkeit angeht. Ein Großteil der Entwicklungen hat die Phase der wissenschaftlichen Forschung verlassen und die Technologien werden am Patienten eingesetzt. Derzeit sind weltweit mehrere tausend Systeme im Einsatz, insbesondere in den USA.

Welche konkreten Szenarien erproben Sie an Ihrem Institut?
Bei uns im Institut setzen wir auf die Vernetzung verschiedener Geräte. Aus der Kombination der Einzelsignale, die von den Geräten kommen, erkennt das System die Situation. Zum Beispiel wird – vereinfacht formuliert – bei einem Endoskop die Position im Raum verfolgt. Sobald sich das Gerät in der Nähe des ebenfalls technisch überwachten Patienten befindet, schaltet sich das Endoskop ein. Ein Endoskop in der Nähe des Patienten ist also für uns ein guter Hinweis darauf, dass es gleich benutzt wird.

Oder das OP-Besteck wird auf einer Waage gelagert. Weil die Instrumente unterschiedlich groß und schwer sind, lässt sich daraus ableiten, dass zum Beispiel gerade das Skalpell verwendet wird. Und weil bestimmte Instrumente nur für einen bestimmten Arbeitsschritt eingesetzt werden, weiß man dann schon relativ genau, wo sich der Chirurg innerhalb des Arbeitsflusses befindet.

Beim Fräsen oder Absaugen lassen sich auch Daten von den Geräten abgreifen, zum Beispiel Drücke oder Drehzahlen. Wir verfolgen auch die Instrumente und die Blickrichtung des Chirurgen, um zu erfassen, wo seine Aufmerksamkeit liegt. Aus der intelligenten Kombination der Einzelinformationen kann man dann auf den Arbeitsschritt schließen. Dabei gilt für uns immer: Wir gestalten die Systeme so, dass sie dem Arzt nicht vorgeben, was er machen muss.

Das ist wie bei einem GPS-System im Auto. Das erkennt, wo Sie gerade sind und spielt Ihnen Informationen zu, schreibt ihnen aber nicht vor, auf welcher Straße sie zu fahren haben. Der Chirurg trifft seine Entscheidungen auf der Basis seines klinischen Wissens und das System folgt ihm.

Welcher Aspekt der Digitalisierung kommt einem Chirurgen im OP dabei besonders zugute?
Wir bezeichnen das Feld als Workflow-Management. Workflow ist der Arbeitsfluss des Arztes am Patienten. Management bedeutet, dass wir diesen Arbeitsfluss unterstützen. Das Praktizieren von Medizin ist heute ja ohne Technologie gar nicht mehr möglich, egal ob sie operieren, überwachen oder auch einfach nur dokumentieren.

Die verwendeten Systeme sind aber alle spezialisiert für einzelne Funktionen und für einzelne Arbeitsschritte. Darunter fallen zum Beispiel Sicherheits- und Lokalisierungssysteme, die dem Arzt oder der Ärztin sagen, wo er oder sie sich gerade innerhalb des Patientenkörpers befindet oder ihn oder sie darauf aufmerksam macht, dass möglicherweise Gefäße oder Nervenbahnen verletzt werden können. Das hat dazu geführt, dass in einem OP-Saal inzwischen sehr viel Technik rumsteht, diese Systeme aber nicht miteinander integriert sind. Wenn ein Arzt diese Systeme verwenden will, muss er sie entsprechend vor- und nachbereiten. Die Vorbereitung der Systeme hat mittlerweile einen so hohen Anteil am Workflow des Arztes, dass es unserer Meinung nach sinnvoll ist, die Technologie so intelligent zu machen, dass die Technologie automatisch vorbereitet wird, dadurch die Vorbereitungszeit durch die Mitarbeiter wegfällt und der Arzt sich auf seine wertschöpfenden Arbeitsschritte konzentrieren kann.

Und Vernetzung ist dabei das zentrale Problem?
Ja, die Chirurgen können nicht selbst direkt über ein Netzwerk auf die notwendigen Geräte zugreifen, weil die Geräte von unterschiedlichen Herstellern stammen, nicht „dieselbe Sprache“ sprechen und somit nicht untereinander kommunizieren können. Weil das so ist, können wir dem Chirurgen auch kein Gerät anbieten, von dem er aus zentral alles selbst regeln kann, zum Beispiel über einen sterilen Touchscreen, mit dem er in der einen Situation Gerät A steuert und im nächsten Schritt Gerät B. So etwas funktioniert noch nicht, da die notwendige Interoperabilität fehlt. Im OP kann eine effiziente Bedienung auch eine Frage der Sterilität sein.

Sie haben ein Eye-Tracking-System mitentwickelt, dass dieses Problem vorläufig lösen soll …
Ja, ein solches System ist eine Möglichkeit die Distanz wischen Chirurg und Gerät zu überbrücken. Sie könnten zum Beispiel auch eine Spracherkennung einbauen, damit der Chirurg verbal seine Einstellungen steuern kann. Allerdings ist es in einem OP oft ziemlich laut, auch weil dort viele Menschen arbeiten, das funktioniert nicht wirklich gut. Deswegen haben wir ein System entwickelt, bei dem der Chirurg durch die rein visuelle Fokussierung eines Bedienelements auf einem Display zum Beispiel technische Parameter anpassen kann.

Was sind die besonderen Anforderungen an die Sicherheit von Computersystemen in medizinischen Umgebungen, zumal in einem so sensiblen Umfeld wie einem Operationssaal?
Das Worst-Case-Szenario der Medizin ist, dass eine Nachricht, die von einem System zu einem anderen System geschickt wird, unterwegs verändert wird – ob bewusst oder unbewusst. Es kommt nicht das an, was abgeschickt wurde. Stellen Sie sich vor, der Blutdruck eines Patienten wird überwacht und es kommt nicht der richtige Wert an.

Zweiter wichtiger Punkt ist, dass eine Nachricht, die ein System empfängt, auch richtig verstanden wird. Leider fehlen oft noch die technischen Standards. In einzelnen Bereichen gibt es bereits herstellerübergreifende Standards, etwa den DICOM-Standard zur Übertragung und Speicherung radiologischer Bilddaten. Ein CT-Bild, das beispielsweise mit einem Siemens-Computertomographen aufgenommen wurde, verfügt auf der Arbeitsstation eines anderen Herstellers, auf der es vom Radiologen begutachtet wird, über exakt dieselben Grauwerte. Eine Struktur oder Läsion, auf die der Radiologe achten muss, ist mit einer Veränderung der Grauwerte verbunden. Da wäre es natürlich fatal, wenn auf dem Monitor farblich etwas anderes dargestellt wird, als es dem eigentlichen Messwert entspricht. Dafür gibt es einen Standard.

Wo beginnt eigentlich die computergestützte Chirurgie? Erst am OP-Tisch oder auch schon bei der Vor- und Nachbereitung einer Operation?
Auch für Vor- und Nachbereitung der OP gibt es Systeme. In der Neurochirurgie ist es beispielsweise wichtig, den richtigen Zugangsweg zu wählen, beispielsweise um zum Tumor in der Mitte des Gehirns zu gelangen. Das ist keine spontane Entscheidung des Arztes, wenn der Schädel schon offen ist, sondern eine Frage der Planung. Wie lassen sich Schäden vermeiden? Wo entsteht der geringste Schaden, wenn es nicht anders geht? Dazu nimmt man radiologische Bilder als Grundlage und berechnet daraus dreidimensionale Modelle, zum Beispiel durch 3D-Volumen-Rekonstruktion. Den entsprechenden Hirnregionen werden dann die spezifischen Funktionalitäten wie Sprache, Erinnerung, Motorik usw. zugeordnet.

Und nach der OP?
Postoperativ spielt – vermeintlich banal – die Dokumentation eine große Rolle, als Grundlage für die Abrechnung. Wie lange hat die OP gedauert? Gab es Probleme? Die Dokumentation ist vielen Chirurgen ein Dorn im Auge. Wenn wir Chirurgen fragen, was an ihrem Arbeitsablauf im OP besser werden soll, dann wird fast immer zuerst die Dokumentation genannt.

Nach dem Stand der Technik wäre das auch eigentlich nicht mehr notwendig. Wären alle Systeme vernetzt, könnte die Dokumentation automatisch im Hintergrund ablaufen. Aus der Tatsache, wann welches System verwendet wird, kann eine KI zum Beispiel ableiten, welcher Arbeitsschritt gerade läuft. Dann wird im Hintergrund einfach das Protokoll geschrieben. Am Ende der OP müsste der Chirurg dann nur nochmal kurz auf das Protokoll schauen und unterschreiben. Fertig. Das wird sich definitiv ändern. Auch weil viele Chirurgen die Dokumentation erst am Ende eines langen Arbeitstags erledigen. Die Detailtiefe ist da mitunter verbesserungswürdig.

Besteht die Gefahr, dass sich Operateure zu sehr auf die Technik verlassen?
Ganz grundsätzlich ist das ein Problem, allerdings lässt sich mit verschiedenen Strategien gegensteuern, zum Beispiel präoperativ, indem einem System gesagt wird, dass an einer bestimmten Stelle in keinem Fall geschnitten werden darf, das System eine Position also gar nicht erst ansteuert. Oder, falls ein System doch mal etwas tut, was es eigentlich nicht tun soll, der Arzt einen „roten Knopf“ drücken kann, der das System komplett ausschaltet und der Chirurg von Hand weiter machen kann.

Der OP-Saal der Zukunft in 10 Jahren sieht also wie aus?
Das Computersystem um den Chirurgen ist so intelligent, dass es erkennt, was der Arzt gerade macht und was er als Nächstes tun will. Der Arzt operiert, ohne irgendwelche Knöpfe zu drücken, ohne irgendwelche Geräte ein- oder auszuschalten. Die Technologie liefert ihm alle Informationen genau zum richtigen Zeitpunkt. Der Arzt folgt seinem Arbeitsfluss, ohne dass er irgendwelche abweichenden Tätigkeiten machen muss.

Herr Neumuth, vielen Dank für das Gespräch.

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