In den USA sorgt die aktuelle Preisentwicklung für Insulin dafür, dass sich Zuckerkranke das Medikament nicht mehr leisten können – mit potenziell tödlichen Folgen. Eine Gruppe von Biohackern hat damit begonnen, die Produktion von Insulin selbst in die Hand zu nehmen. Ihr Ziel: Insulin soll sich weltweit direkt vor Ort produzieren lassen.
Biohacker, wie sie gemeinhin genannt werden, haben für manchen auf den ersten Blick etwas Skurriles oder zumindest Exotisches an sich. Antennen, die aus Köpfen ragen, wie beim britischen Künstler Neil Harbisson, RFID-Chips unter der Haut oder selbst-applizierte Gen-Hacks künden von verwegener Selbstoptimierung am Rande der Legalität und der medizinischen Glaubwürdigkeit. Der neue selbstoptimierte Mensch als moderne Jahrmarktsfigur einer technischen Selbstermächtigungshybris, könnte man meinen.
Dabei geht es bei der Biohacker oder DIY-Biologie-Bewegung eigentlich um etwa ganz anderes: Nämlich um die Demokratisierung von biomedizinischen Wissen.
Gen-Scheren, gentechnisch optimierte Impfstoffe oder genoptimierte Mikroorganismen in biotechnologischen Laboren sind längst Alltag – auch wenn die wenigsten Menschen damit direkt in Berührung kommen. In Biohacker-Laboren kann jeder etwas darüber lernen, auch ohne in einer naturwissenschaftlichen Fakultät eingeschrieben zu sein.
Vor allem in den USA ziehen Menschen mittlerweile sogar das Biohacker-Labor als Ort der alternativen medizinischen Behandlung in Betracht – meist aus der Not heraus geboren, Medikamentenpreise nicht mehr zahlen zu können. Kann das gut gehen?
Mehr Kunst als echte Medizin?
In den USA ist die Zahl der nicht versicherten US-Amerikaner zuletzt wieder gestiegen. Knapp 28 Millionen US-Amerikaner waren 2018 ohne Krankenversicherung, das sind immerhin gut 8 % der Gesamtbevölkerung. Und natürlich werden auch diese Menschen regelmäßig krank, sogar schwer. Und leiden beispielsweise an Diabetes und benötigen dringend Insulin.
Ein Reportage der Washington Post hat im Januar vergangenen Jahres ein eindrückliches Licht auf diese Menschen geworfen.
Günstige Generika gibt es aber weiterhin nicht, was auch mit einer geschickten Produktentwicklung der den Markt dominierenden Pharmakonzerne Sanofi, Novo Nordisk und Eli Lilly zu tun hat.
Kritiker werfen der Branche vor, mit immer neuen „Insulinmarken“ auslaufende Patente künstlich zu verlängern und die Insulinpreise damit in die Höhe zu treiben, was auch als „Evergreening“ bezeichnet wird.
Der Pharmakonzern Eli Lilly hat im Angesicht der Covid-Krise aber immerhin reagiert, und ein Programm ins Leben gerufen, das auch Nicht-Versicherten den kostengünstigen Erwerb von Insulin ermöglichen soll.
In ihrer Not sind Betroffene auch auf die Biohacker-Bewegung aufmerksam geworden. Diese macht sich die Tatsache zu nutze, dass immer mehr hochspezialisiertes Wissen frei im Internet verfügbar ist.
The Open Insulin Project
Ein Team aus Biohackern aus Oakland in Kalifornien macht bereits seit 2015 ernst . Mit einem Startkapital von gut 16.0000 US-Dollar blies man zum Angriff auf horrende Medikamentenpreise. Das Ziel: eine offene Anleitung („protocol“) für die Insulinproduktion.
Seitdem ist man im Labor schon ein ganzes Stückchen weiter gekommen – und rechnet jetzt schon auf der Website vor, was es braucht, um selbst mit der Produktion loslegen zu können. Und leider zeigt sich dabei: ohne einen ordentlichen Batzen Geld scheint die Sache nicht zu funktionieren.
Mit einer nicht ganz unbeträchtlichen Startinvestition von knapp 1 Millionen US-Dollar sollen sich zwei Arten von Insulinanaloga (glargin und aspart) mit unterschiedlicher langer Wirkungsdauer für im Schnitt 13.000 Betroffene dezentral – also im Prinzip an jedem beliebigen Ort der Welt – herstellen lassen. Die Herstellungskosten sollen um die 7 US-Dollar pro Phiole (10ml) liegen und damit nur unwesentlich teurer als die durchschnittlichen Produktionskosten der Pharma-Großkonzerne (4 US-Dollar). Nach dieser Rechnung soll eine Insulin-Plattform für 73 US-Dollar pro Patient umsetzbar sein.
Die Pharma-Großkonzerne in den USA verlangen heutzutage bis zu 500 US-Dollar pro Monatsdosis.
Die Herstellung
Durch die genetische Modifikation zweier Hefestämme ist es den Biohackern bisher gelungen, eine Vorform von Insulin (modifiziertes Prosinsulin-Protein) und ein Enzym zur Umwandlung des Proinsulins in Insulin glargine im Labor herzustellen.
Auch im menschlichen Körper wird Insulin erst in einer Vorform gebildet und dann durch eine Protease (Enzym) in den aktiven Zustand versetzt.
Im Rahmen der biotechnischen Insulinherstellung kommt vor allem der Reinigung des Endprodukts eine zentrale Bedeutung zu. Die Macher von TOIP wollen dazu ein patentfreies chromatografisches Verfahren auf UV-Detektor-Basis einsetzen (mehr zum allgemeinen Prinzip der Chromatographie hier).
Neben dem Protokoll für die Insulinherstellung will TOIP auch ein offenes Design für einen Bioreaktor und ein Reinigungssystem auf Open Hardware-Basis bereitstellen.
Allerdings ist die Herstellung von Arzneimitteln sowohl in Deutschland als auch in den USA mit Auflagen verbunden, um die Qualität und Sicherheit der Produkte zu gewährleisten. Sollte die (gewerbliche) dezentrale Insulin-Produktion also einmal „im großen Stil“ anlaufen, gebe es dafür sicher einige regulatorische Hürden zu überwinden.
Die Qualitätsfrage
Die Geschichte der Insulinherstellung ist lang. Synthetisierte Insuline unterscheiden sich nach ihrer Herstellungsweise und ihrer Wirkungsdauer.
Sog. „Humaninsuline“ werden meist biotechnologisch durch gentechnisch modifizierte Hefekulturen oder Bakterien (E. coli) produziert. Das erste Insulin stammt aus dem Jahr 1921 und wurde den Bauchspeicheldrüsen von Tieren entnommen, sein Entdecker war Frederick Banting. Banting verkaufte damals sein Patent zum symbolischen Preis von 1 $ an die Universität von Toronto – ein aus der heute vorherrschenden kapitalistischen Sichtweise überaus erstaunlicher Schritt.
Bis zum Jahr 1976 hat es gedauert bis es gelang, das für die Insulinproduktion in Tieren verantwortliche Gen zu isolieren und in Mikroorganismen zu übertragen. Bis heute hat die Pharmabranche zahlreiche Insulinanaloga für eine gezieltere Abstimmung der Wirkungsweise entwickelt.
Herstellung direkt vor Ort
Wenn es nach den Machern von TOIP geht, sollen die Inhaber und Betreiber der Open Hardware-Produktionsstätten direkt aus den Communities vor Ort stammen, natürlich die Betroffenen selbst, aber auch lokale Gesundheitsdienstleister oder auch die Stadt. Dazu strebt das Projekt dezidierte Kooperationen an, z. B. im ärmlichen Kamerun.
Langer Atem gefragt
Ins Leben gerufen wurde „The Open Insulin Project“ bereits 2015 von Anthony Di Franco, Mitgründer und Vorstandsmitglied des Labors für Biohacking und Open Science Counter Culture Labs in Oakland, Kalifornien. Di Franco ist seit seiner Jugend selbst an Diabetes erkrankt.
Die Bewegung der „Do-it-yourself-Biologie“ knüpft an das Konzept der Hacker- und Maker-Spaces und überträgt es auf den Bereich der Biotechnologie. Sie hat ihren Ursprung in Cambridge (Massachusetts).
Auch in Deutschland gibt es eine (kleine) Szene, die mitunter sogar auf öffentliche Förderung zählen kann. So betreibt die TU München über ihr Gründerzentrum die sog. Bio.kitchen, um Laien die Erprobung von Geschäftsideen im Biotechnologie-Sektor zu ermöglichen. Wer will, kann sich dort z. B. seine eigenen Bakterienstämme „zusammencrispern“ und sie dann gegeneinander antreten lassen.
Die Bio.kitchen birgt neben einer allgemeinen Laborgrundausstattung, wie sie auch in jedem Apothekenlabor zu finden ist, und der Möglichkeit zum Arbeiten unter Reinraumbedingungen z. B. einen Pipettierroboter, ein DNA-Sequenzierungsgerät, PCR-Kits oder auch eine Mikrofluidik-Plattform für das Testen eines „Labs on a chip“.